NEUE LANGEWEILE
NEUE LANGEWEILE

Bei Grünheide 2.1

Was schauen wir an?

Ein Textbeitrag von Tomas Kadlcik, Zürich.

(Erde) - Boden - (Bau)Grund – Ort – Platz

Die Erde als etwas zu Entdeckendes war einmal. Nun ist sie vermessen, aufgeteilt und zugeteilt. Sie ist nun eine Bodenfläche, die zu einem Staat gehört oder jemandem gehört, der auf ihr bauen oder mit ihr Handel treiben kann.

Der Boden liegt zuallererst einfach so da: als Wüste, Steppe, Urwald, Tundra, Eis, Fels. Dieser Boden kann umzäunt und geschützt werden: als Park, Acker, Feld, Brache für spätere Verwendungen. Wird diese Verwendung aber realisiert, wird der Boden zum (Bau)Grund. Die auf dem Baugrund errichteten Bauten sind vielfältig in ihrer Grösse, Funktion, Gestalt und Materialität. Der Baugrund ist aber nur solange wertvoll und interessant, bis der Bau realisiert wird. Dann überwältigt und verneint der Bau den Boden, auf dem er steht. Der Baugrund wird eine leere Grösse da sich der Bau über ihn erhebt, ihn verstellt und letztlich vernichtet.

Wo sich mehrere Bauten zusammenrotten entsteht ein Ort. Der Ort ist für den Menschen gemacht. Er gibt ihm Wohnung, Arbeit und Strassen, um von der Wohnung zur Arbeit zu fahren. Lange Zeit gab es in einem Ort jeweils einen Platz im Zentrum. Die Menschen kamen dort zusammen, um sich zu beraten, zu verkünden, zu schwatzen und zu flanieren. Der Platz war das Herz des Ortes, der für den Menschen gemacht ist. Jetzt gibt es viele Plätze – nicht nur im Zentrum – doch keiner ist mehr das alleinige Herz eines Ortes.

Anwesend – abwesend

Der Mensch ist jeweils an einem Ort. Er lebt an einem Ort, er arbeitet an einem Ort, er vergnügt sich an einem Ort. Dabei reist er oft von einem Ort zum andern. Kommen viele Menschen an einer offenen Stelle in einem Ort zusammen, belebt sie sich und wird zum Platz. Die meisten Plätze sind bereits hergerichtet für die Anwesenheit des Menschen. Sie sind gut erreichbar, weiträumig, offen für alle Arten von Veranstaltungen und Aktivitäten. Viele Plätze sind durchaus unscheinbar. Der Platz vor einem öffentlichen Gebäude, der Parkplatz vor einem Supermarkt; doch auch diese unscheinbaren Plätze leben von der Anwesenheit des Menschen. Was geschieht mit ihnen, wenn der Mensch nicht anwesend ist?

Der Platz ohne die Anwesenheit des Menschen bleibt für dessen Ankunft hergerichtet. Er wartet auf den Menschen. Dieses Warten hat etwas Geduldiges, ja Stoisches, ist aber in Wahrheit nur fatalistisch, weil der Platz gar keine andere Möglichkeit hat. Ohne den Menschen ist der nichts. Er langweilt sich. Die leeren Parkfelder sind nur Markierungen auf dem Boden, der Marktplatz ohne Stände ist nur eine Fläche, die es zu überqueren gilt, der Versammlungsbaum auf dem Dorfplatz ist einfach nur Baum.

Bauten – Umland – Umgebung – Kulisse

Wie der Platz so hat auch jeder Bau eine Funktion für den Menschen. Selbst ohne Menschen bleibt der Bau des Menschen Werk und Zeugnis vom Menschen. Der Bau erhebt sich nicht von selbst über den Grund – es braucht dazu den Menschen und dessen Arbeit. Der Grund wird durch den Bau entwertet, da der Bau selbst dessen Wert in sich aufnimmt und übertrumpft. Der Grund ist als umgebende Grünfläche bestenfalls noch Kulisse für den Bau, der sich gekonnt in seine Umgebung einfügt. Wo die Umgebung des Baus nicht dem Bau selbst dient als Zufahrtsweg, Versammlungsplatz oder eine den Bau aufwertende, gestaltete Kulisse, bleibt sie meist unbeachtetes Umland. Sie scheint noch weniger als der menschleere Platz, der immerhin definierte Grenzen und Hinweise auf seine Funktion hinterlässt. Bei der Umgebung und noch viel mehr beim Umland wissen wir nicht, wo sie anfangen und wo sie aufhören, noch, was wir mit ihnen anfangen sollen.

Die Kulisse dient dem Bau zu, rückt ihn ins beste Licht, gibt ihm einen Rahmen. Zugleich scheint sie der bewusste Versuch, den Bau mit seiner ungestalteten Umgebung zu versöhnen, ihn in sein Umland einzufügen. Doch ist die Kulisse in Wahrheit kein Dienst des Menschen an der missachteten Umgebung, denn sie ist ausschliesslich auf den Bau ausgerichtet. Für sich allein ist die Kulisse nichts. Sie hängt zwischen dem Bau und der Umgebung, zwischen denen sie vermitteln möchte, doch sie ist weder für den Bau noch für die Umgebung wertvoll. Der Bau braucht die Kulisse nicht – er ruht in sich selbst, wogegen die Umgebung bald endgrenzt wird, zum Umland verschwimmt, welches irgendwo zum Grund, Boden, gar zur Erde wird. Die Kulisse ist nichts, ohne die Betrachtung oder Benutzung durch den Menschen.

Sehenswürdig – unbeachtet

Bauten erheben sich selbstbewusst über dem Baugrund, den sie mit ihrer Anwesenheit vernichten. Auch die Umgebung dient als Verkehrsweg, Vorplatz oder umgebende Grünfläche dem Bau zu. Als Herr der Umgebung muss der Bau aber auch etwas hermachen. Er zeigt Grösse, Härte und Stabilität. Er glänzt im Sonnenlicht oder erfindet ganz eigene Formen und Farben. Er möchte gesehen und beachtet werden. Nicht alle Bauten sind so ambitioniert und selbstbewusst. Viele begnügen sich auch mit ihrer Funktion als Schuppen, einfaches Wohn- oder funktionales Bürohaus, als Garage oder Lagerhaus. Einige sind dafür richtiggehend eitel: Mit ihrem Formenspiel, ihrer die Umgebung beherrschenden Grösse, wertvollen Materialien und erstaunlichen Verzierungen buhlen sie um die Aufmerksamkeit des Menschen – und sie bekommen sie. Der Mensch, ganz angetan von den Möglichkeiten seinesgleichen, sich aufzurichten, über den Grund zu erheben, den Boden zu bebauen und ein unübersehbares Zeichen zu setzen, pilgert zu diesen ausserordentlichen Bauten, die er als würdig für die blosse Betrachtung erachtet. Die Funktion des Baus interessiert ihn gar nicht mehr, der da glänzt durch seine Präsenz und sein Selbstbewusstsein.

Sind die rein funktionalen und bescheidenen Bauten denn nicht würdig, ebenfalls von uns beachtet zu werden? Immerhin leisten sie genauso Grosses, wie die anerkannt sehenswürdigen: Sie richten sich auf und geben dem Menschen Schutz und Behausung. Ihre Dimensionen sind menschlicher, ihre Funktionen klarer. Sie brauchen keine Kulissen, die sie noch zusätzlich aufwerten und mit der Umgebung versöhnen, denn sie wollen nicht mehr scheinen, als ihnen gebührt. Für den Menschen, der alles auf sich bezieht und für sich er- und herrichtet, sollten gerade diese Bauten und die Orte, an denen sie stehen Vertrautheit und Orientierung bieten, da sie ihn einladen zu kommen und zu verweilen.

Und was ist mit dem Umland, das sich zur Umgebung weitet? Wenn diese wohlgefällt, wird sie als Landschaft wahrgenommen, bekommt ihre Eigenständigkeit und Würde zurück, die dem Boden als Baugrund genommen wurde. Doch das Wohlwollen des Menschen ist flüchtig, denn schnell kann er die Landschaft zu seinen Gunsten wieder umnutzen: zu Weideland, Ackerboden oder eben Baugrund. Nur selten lässt der Mensch etwas unberührt, was er nicht geschaffen hat. Nur die höchsten Berge und tiefsten Täler sperren sich eine Zeitlang gegen den Zugriff und werden zunächst Herausforderung gesehen, dann gemeistert und später von den weniger Ambitionierten als Naturschauspiel bewundert.

Aber der Mensch ist wählerisch und eitel: Nur er bestimmt, was seiner würdig ist. Er baut sich Orte, die von seiner Grösse und Macht zeugen, und die er und seinesgleichen deshalb bewundern können, oder er adelt das Naturschauspiel zur Sehenswürdigkeit, die eine Reise wert ist und sogar unter Schutz (vom Menschen vor dem Menschen) gestellt wird. So gesehen ist das Unbeachtete im Vorteil, da es sich dem Zugriff entziehen kann. Im Schatten der grossen Bauten und der grossartigen Landschaften fristet es sein Dasein, auch wenn es nur eine Brache zwischen Autobahnauffahrt und Mall ist, einige Sträucher an einem staubigen Hügel, ein Strandstück ohne Infrastruktur und Reiz. Es sind Orte, mit denen der Mensch buchstäblich nichts anzufangen weiss. Er übersieht sie und langweilt sich bald, wenn es ihn per Zufall dorthin verschlägt. Er zieht schnell weiter und überlässt dieses Niemandsland sich selbst.